Vorbild: Die Taube verkörpert das frühe deutsche Flugzeugdesign. Der Österreicher Igo Etrich stützte seine erfolgreiche Konstruktion auf die stabilen Gleiteigenschaften der Zanonia (heute Auchmitra) Macrocarpa-Samen. Etrich entwickelte zunächst Modelle und dann bemannte Segelflugzeuge, bevor er zu motorisierten Versionen wechselte. Die Etrich I Sperling ging 1909 kurzzeitig in die Luft. 1910 folgte die größere Etrich II Taube. Da die zugrunde liegenden aerodynamischen Prinzipien der Taube von Professor Friedrich Ahlborn in seiner 1897 veröffentlichten Luftfahrtforschungsarbeit beschreibt, erhielt Etrich keinen Patentschutz in Deutschland, wodurch das Design frei genutzt werden konnte, so dass fast jeder mit Motor, genügend Stoff, Draht und ein paar Holzstäben legal eine Taube bauen und verkaufen konnte.
Der im Elsass geborene Emil Jeannin war verantwortlich für einen der Taube-Entwürfe zur Ausstattung des deutschen Militärs, der Jeannin Stahltaube 1914. Diese verfügte über einen Stahlrohrrahmen im Gegensatz zu dem Holz, das von den meisten anderen Herstellern verwendet wurde. Die Motorverkleidungen waren Aluminiumblech, während die Kabinen- und Fahrwerksstreben aus Stahlrohr gefertigt wurden. Dazu kam ein 100 PS 4-Zylinder oder 120 PS 6-Zylinder-Motor. Es gab auch eine einsitzige Stahltaube sowie eine kleine Version mit verkürztem Rumpf und Heckplane. Emil Jeannin wurde wegen seiner Herkunft kurz nach Kriegsbeginn inhaftiert, aber die Produktion seiner Stahltaube für die deutsche Armee lief weiter.
Diese nutzte die unbewaffneten Eindecker vom Typ Taube zunächst zur Aufklärung. Bald nach Kriegsbeginn bewaffneten sich die Flieger und setzten Pistolen oder Gewehre gegen feindliche Aufklärer ein. Mit kleinen Bomben bestückte Tauben flogen die ersten Angriffe auf Städte. Die breitere Verfügbarkeit leistungsstärkerer Doppeldecker führte dazu, dass ab Mitte 1915 keine Jeannin Taube mehr im Frontdienst blieben.
Die einzige überlebende Jeannin Stahltaube kann im Deutschen Technikmuseum Berlin besichtigt werden. Sie wurde 1986 mit einem gelb-orange gummierten Überzug restauriert, der auf ähnlichen Vorkriegsentwürfen zu finden war. Es ist nicht bekannt, ob Flugzeuge im Militärdienst üblicherweise so aussahen.
Bausatz: Der Karton ist stabil und von oben zu öffnen. Das Kartonbild ist wunderschön. Die 165 Teile für den Zweisitzer befinden sich an sechs grauen und einem klaren Gussast. Damit liegt die Taube im Mittelfeld der Angebotspalette von Wingnut Wings (WnW). An den Plastikteilen ist nichts auszusetzen. Insbesondere gefällt die unterschiedliche Materialstärke im Bereich der Flügel, die an ihren Enden immer dünner und filigraner werden.
Die Klarsichtteile sind überschaubar und einwandfrei.
Hinzukommen Fotoätzteile insbesondere für die Speichenräder. Diese liegen sowohl als Plastikteil wie auch als filigraneres fotogeätztes Metall vor. Vergleicht man die Teile, wird man wohl dem Metallteil den Vorzug geben. WnW selbst empfiehlt die Fotoätzteile nur für erfahrene Modellbauer. Das ist gerechtfertigt, denn es sind pro Rad zwei Teile für die Speichen sowie zwei Teile für die Felgen. Hier muss sehr sorgfältig und vor allem geduldig gebogen werden. Aber wenn es nicht klappt, dann kann man immer noch die Plastikteile nehmen, die wirklich nicht schlecht sind. So geht frustfreies Bauen.
Die Passgenauigkeit von Wingnut Wings-Bauteilen dürfte bekannt sein. Soweit möglich, sollten Klebestellen vor Farbe geschützt werden. Die zusätzliche Dicke der Farbe kann zu Passungsproblemen führen.
Bauanleitung/ Bemalung: Die Bauanleitung ist farbig und übersichtlich. Sie enthält zusätzliche Informationen zur Geschichte und ist ein Genuss zu lesen. Einige Fotos sollte man sich sehr sorgfältig für die Bespannung anschauen. WnW hält nicht viel von Spannschlössern. Deren genaue Lage und Aussehen kann man jedoch zum Teil auf den Fotos der Bauanleitung finden. Farbvorschläge sind für Tamiya- und Humbrolfarben sowie mit Federal Standard Nummern angegeben. Die Wasserschiebebilder sind groß. WnW weist ausdrücklich darauf hin, dass diese keinen weiteren Weichmacher benötigen und dies sogar schädlich sein könnte. Bisher habe ich keine schädliche Wirkung feststellen können. Notwendig war der Weichmacher jedoch nicht.
Es werden fünf verschiedene Bemalungsvarianten vorgeschlagen. Eine davon ist die gelblich-gummierte Variante des berliner Museums. Die anderen kommen in Feldgrau daher. Für die Bemalung sei auf die Homepage von Wingnut Wings hingewiesen. Zu jedem Modell gibt es Fotos von gebauten Modellen. Hinzu kommen Ratschläge für den Bau und aktuelle Korrekturen der Bauanleitungen.
Fazit: Dieser Bausatz ist von gewohnter Wingnut Wings Qualität. Es kostet viel Geld und bietet viel. Zubehör könnte man auch noch erwerben. Interessant ist die Frage nach einem Fahrwerk aus Weißmetall. Das Plastik des Fahrwerks ist wohl zu dünn. Andere WnW-Modelle wackeln bei der geringsten Vibration. Metall würde das verhindern. Aber das kann man immer noch entscheiden und sich dann auf die Suche nach dem entsprechenden Zubehörartikel machen.
Das Besondere ist das Modell an sich. Die Taube ist ein optischer Leckerbissen. Sie kam zu einem Zeitpunkt, als noch niemand wirklich wusste, wie Flugzeuge später einmal aussehen würden. Sie erinnert an die Flugmaschine von Otto Lilienthal, an einen Vogel oder an merkwürdiges Saatgut. Das Modell der Taube erzählt die Anfänge der Luftfahrt. Während sich die Flugzeuge des ersten Weltkriegs in Aussehen und Leistung ab 1915 immer weiter annäherten, sind einige Flugzeugtypen etwas ganz eigenes. Die Jeannin Stahltaube gehört dazu. Der Bausatz kostet 119 Euro und manchmal 10 Cent weniger.
Erhältlich bei gut sortierten Modellbauhändlern.
Burkhard Kötke, April 2020